P. Hersche: Kirchen als Gemeinschaftswerk

Cover
Titel
Kirchen als Gemeinschaftswerk. Zu den wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen frühneuzeitlichen Sakralbaus


Autor(en)
Hersche, Peter
Erschienen
Basel 2021: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
CHF 48.00
von
David Neuhold

Der Autor, emeritierter Titularprofessor der Universität Bern und pensionierter Gymnasialprofessor mit Appenzeller Wurzeln, nimmt in seinem Buch mit Barockkirchen und -kapellen religiöse Orte in den Blick. Für das Buch hat er einen grünen Einband und eine Abbildung der Kirche von Ruswil (LU, erbaut in den 1780er Jahren) beigezogen. In ihrer Funktionalität befinden sich solche Kirchen vielfach in einer starken Transformation bzw. Auflösung: Kirchengebäude aus dem Barock im Raume der heutigen Schweiz werden wohl nicht mehr in dem Ausmass genutzt und geschätzt wie auch schon. Wir sind nun in anderen, zuvorderst digitalen Bildwelten angekommen.
Für den Historiker Hersche steht eine von «unten herkommende» Blickrichtung in seiner Art und Weise, historisch zu arbeiten und zu analysieren, im Zentrum. Die Annales-Tradition schimmert durch. Dabei verzahnt Hersche realitätsnah Religion und Wirtschaft eng – etwas das anderenorts oft schmerzlich fehlt. Für den «einfachen Mann» und die «einfache Frau» waren frühneuzeitliche Kirchenbauten zentrale Gebäude und zugleich wichtige Bezugspunkte, nicht lediglich in religiöskultischer Hinsicht, sondern auch als regenfeste Versammlungsorte sowie (im Vergleich mit den Nachbargemeinden) zentrale Identifikationsräume, kenesfalls nur von oben herab «gesunkenes Kulturgut» (S. 241, aber auch S. 79: «Statussymbol und Repräsentationsobjekt»). Das zeigt Hersche eindrücklich auf und legt damit eine Perspektive frei, die weder im Fachdiskurs noch in der breiteren Öffentlichkeit immer zuerst und zuvorderst bei der Hand ist. Da wird eher «elitär» gedacht, der Barock wird als absolutistisch-monarchisch gesehen.
Ganz praktischen Gesichtspunkten und im besten Sinne einfachen forschungsleitenden Fragestellungen geht Hersche nach: Welche waren die historische Voraussetzungen (z.B. vom Mittelalter mit seinen diversen Schüben für den Kirchenbau), die zentralen Motivationen zum Bau (oftmals waren Pfarrherrn federführend und ideengebend, aber auch Patrizier sowie Druck «von unten»), oder wer übernahm die Organisation (eines Neu- oder Umbaus) und welche ökonomische Überlegungen standen im Mittelpunkt? Generell differenziert der Autor in einer sympathischen und überzeugenden Art und Weise. Manches hätte vielleicht gekürzt werden können. Gekonnt «summiert» Hersche beispielsweise, geradewegs buchhalterisch, im Kapitel 3, wo er Investitionen und Aufwendungen für das Bauwesen der katholischen Schweiz zusammenträgt und eine pekuniäre Conclusio wagt: Da offenbart sich die Stärke des Autors mit dessen grossen Überblick! Ob er mit Analysen wie der folgenden nicht auch aneckt, das sei dahingestellt: «Nicht berücksichtigt ist hier ausserdem der Einsatz der Arbeit, einerseits der Baufronen hauptsächlich der Männer, andererseits der Textilarbeiten der Frauen, die beide zahlenmässig in die Hunderttausende von Stunden gehen. Protestanten hätten diesen Zeitaufwand im Heimgewerbe oder in den Manufakturen abgeleistet, einen niedrigen Lohn bezogen und dafür die Fabrikherren gemästet und zu zusätzlichen Investitionen veranlasst.» (S. 146).
Wir haben es also zu tun mit einem – katholisch-imprägnierten – «Beitrag zu einer Kirchengeschichte ‹von unten›, das heisst aus der Sicht des gewöhnlichen Volkes». So heisst es jedenfalls in der Verlagsdarstellung. Eine solche bottom-down Sichtweise zu rekonstruieren, das ist freilich nicht immer einfach. Es ist aber beeindruckend zu sehen, welche immense Mittel als volkswirtschaftliches Surplus für kommunale Sakrallandschaften investiert wurden. Es sind Räume und Orte, die uns heute noch «betreffen», sowohl in erfreulicher als auch in herausfordernder Hinsicht: Was soll nun mit all den Gebäuden geschehen? Heute wird das Geld ganz anders – eher in «protestantischen Gefässen» – investiert! Die Sprache des Autors erweist sich als exzellent, wenn er z.B. von aufklärerischen Massnahmen schreibt, dass sich diese «wie Frost über die fortwährend blühende Barockkultur» legte (S. 208). Kann und wird es wieder zu einem erneuten Tauwetter kommen?
Der Autor vermag bei seinem Überblick auf eine eigene grosse Quellenkenntnis zurückzugreifen. Erstaunlich, was hier zusammengetragen wurde. Diese Detailkenntnis kann für den Leser bzw. die Leserin aber durchaus herausfordernd, bisweilen sperrig, sich zeigen: Wer war denn auch nur an annähernd den meisten Orten, die Hersche polyhistorisch mit seinen historiografischen Adleraugen als Beispiele, Exempel und Belege beibringt? Da wird einem manchmal etwas schwindelig. Das Buch ist voraussetzungsreich, zuallererst topo- bzw. geografisch. Eine Schweiz-Karte neben am Tisch darf also nicht fehlen, besser noch ist es, über ein Generalabonnement der SBB/CFF und ausreichend Zeit und Musse zu verfügen. Daneben kann sich Hersche auf schon von ihm selbst verfertigte ausgewiesene Standardwerke zum Barockzeitalter beziehen – einer Epoche, welcher er, in normativer Hinsicht gut erkennbar, auch viel Positives abgewinnen kann, gerade, und das scheint in der Deutung ungewohnt, in einem demokratischen, partizipativen und gemeinschaftlichen Sinne (S. 231). 1747 wurde freilich Jakob Schmidlin aus Werthenstein auf den Scheiterhaufen gebracht, weil er in dieser Barockzeit eine andere als die herkömmlichen Kirchen baute, nämlich eine «Hauskirche» (vgl. S. 246, FN 847 sowie den neuen Film «Der letzte Ketzer», Schwarzfalter 2022, vgl. www.unfilmbar.ch/der-letzte-ketzer).
Aber nicht nur der barocke, sondern auch der gegenwärtige Katholizismus ist auf globale Ganzheitlichkeit, Gemeinschaftlichkeit und Synodalität ausgelegt. Der Autor weist den Weg in Richtung einer stärker entpolitisierten, alternativen, grünen und «gemeinschaftlichen Kirchengeschichte», die zugleich konservative, d.i. «erhaltende» Impulse für die Zukunft bereithält. Wenn hier auch nur kleine Andeutungen eines Fachfremden gemacht werden konnten, so bin ich mir sicher, dass ein solcher, letztlich positiver Zugang zukunftsweisend und fruchtbar ist, selbst und gerade, wenn uns in der Gesellschaft wahrscheinlich autokratische und schwierige Zeiten bevorstehen.

Zitierweise:
Neuhold, David: Rezension zu: Hersche, Peter: Kirchen als Gemeinschaftswerk. Zu den wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen frühneuzeitlichen Sakralbaus, Basel 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 465-466. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.